Am 30. Januar 2015 fand im Presseclub Bremen eine Akademische Feier für Holger Böning statt, auf der ihm von Freunden und Kollegen eine Festschrift überreicht wurde.
Holger Böning bedankte sich mit folgenden Worten:
Liebe Freunde, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
ich sage Ihnen allen vielen, vielen herzlichen Dank für die Ehrung, die Sie mir haben zuteilwerden lassen, Dir lieber Reinhart für den wunderbaren Vortrag, der angedeutet hat, wo wissenschaftlich auch mein Herz schlägt! Und allen anderen, die mich mit ihren Worten beschämt haben, Dir lieber Michael, der Du den heutigen Tag erfunden hast. Ganz herzlichen Dank denen, die weite Wege auf sich genommen haben, aus Polen und den Niederlanden.
Ein 65. Geburtstag erlaubt es zurückzuschauen, und da steht die Universität Bremen, der ich seit 1972 verbunden bin, an erster Stelle. Ich bin dieser Universität, die einmal so anders war als alle die alten, ehrwürdigen, traditionell die unteren sozialen Schichten auschließenden hohen Schulen zu großem Dank verpflichtet, sie hat mir in den vergangenen gut vier Jahrzehnten nicht nur eine exzellente Ausbildung ermöglicht, sondern früh auch schon jene Selbstständigkeit der wissenschaftlichen Forschung, wie es sie für junge Wissenschaftler vermutlich nirgendwo in diesem Maße gab wie in Bremen.
Von Exzellenz sprach niemand, aber man hatte sich, angestoßen durch die Debatten nach Georg Pichts Diagnose einer deutschen Bildungskatastrophe und natürlich durch die Studentenbewegung, auf den Weg gemacht, Verkrustungen aufzubrechen, die die traditionellen deutschen Universitäten an notwendigen Reformen hinderten, nach Wegen zu suchen, wie im Zusammenwirken unterschiedlicher Wissenschaften neue Fragen und neue Antworten zu finden seien, vor allem aber auch, auf dem Feld der Bildung für ein wenig mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen.
An die Universität hat mich der Gedanke gebracht, es müsste schön sein, als Deutschlehrer gemeinsam mit Schülern solche Texte zu lesen und zu hören, zu analysieren und zu interpretieren, wie ich sie in den Jahren zunehmender Politisierung 1965 bis 1968 als Lehrling kennenlernte, Brecht, Tucholsky, Borchert oder die wunderbar poetischen Lieder Franz Josef Degenhardts, die so genau zu formulieren verstanden, was man empfand „Sonntags in der kleinen Stadt“, angesichts der bösartigen Ausgrenzung von Andersdenkenden und Andersartigen, des Umgangs mit Kriegsdienstverweigerern oder der Kontinuität der deutschen Führungseliten nach 1945, nicht zuletzt auch an den deutschen Universitäten.
Nach den Jahren, die von 1970 bis 1972 zum Abitur am Oldenburg Kolleg führten, gab es – jedenfalls für mich – zur Universität Bremen keine Alternative. Was man von dort hörte über Projektstudium, gleichberechtigte Debatten aller Universitätsangehörigen, drittelparitätische Mitbestimmung von Studenten und sonstigen Beschäftigten, den sogenannten Dienstleistern, wie es nicht gerade sprachschöpferisch hieß, war ganz sagenhaft neu und anders als das, was man von anderen Universitäten hörte. Unvergessen ist eine vorher nie erlebte Lern- und Diskutierfreude. Die unglaubliche Politisierung, die ich Bremen vorfand, erlaubte mir eine Eroberung der fremden Welt Universität, ob als Mitglied im Akademischen Senat oder als ASTA-Vorsitzender, vor allem aber im Projektstudium, in dem – eigentlich beneidenswerte, aber manchmal angesichts extrem diskussionsfreudiger und fast alles schon wissender Studenten auch etwas genervte – Hochschullehrer die Aufgabe des Moderierens hatten, Partner eines Lehr- und Lernprozesses waren sie, wenn es gut ging.
Ich merkte, wie wenig ich eigentlich in der Volksschule und auf dem Zweiten Bildungsweg gelernt hatte, doch niemals musste ich in Bremen das Gefühl haben, den Kommilitonen mit einem traditionellen Abitur unterlegen zu sein. Allerdings zeigten mir Mitstudenten und Lehrer – zumeist aus bürgerlichem Elternhaus mit humanistischem Bildungshintergrund –, dass mir manches fehlte, was das Leben reicher macht und ohne das es Bildung nicht geben kann: Kenntnisse und Verständnis für Musik, Literatur, Philosophie und Kunst, so manches, wovon ich noch nie gehört hatte. Dass ich mich dem Unbekannten nähern konnte, ohne dass akademischer Dünkel mich dabei beschämt hätte, ist unvergessen, insbesondere Hans Wolf Jäger und Gert Sautermeister hatten die menschliche und pädagogische Qualität, den Studenten nicht allzu sehr merken zu lassen, wie wenig er eigentlich wusste. Aber in Bremen konnte man schnell lernen: in den Seminaren saßen vom Erst- bis zum Zehntsemesterstudenten alle zusammen, um nach ihren Fähigkeiten und Kenntnissen zum gemeinsamen Erkenntnisprozess beizutragen. Wohl nur in Bremen war denkbar, dass man schon in den ersten Semestern gleichberechtigt und mit gleichgewichteter Stimme an Berufungskommissionen teilnehmen konnte. Hier habe ich früh den akademischen Betrieb an einem seiner intimsten Orte kennenlernen und mir die eigenen Lehrer gleichberechtigt mit aussuchen dürfen, und – ein wenig Selbstlob muss sein –, ich glaube, dass ich dabei keine schlechte Wahl getroffen habe.
Ein Loblied also meinem Studium und meinen akademischen Lehrern. Lehrveranstaltungen, wie ich sie in Projekten zu Reformation und Bauernkriegen oder zum literarischen Realismus erlebte, erscheinen mir noch heute vorbildlich. Bei Hans Wolf Jäger und Gert Sautermeister lernte ich, dass Literatur mehr ist als die wenigen großen Namen, ja, dass diese Großen sich gar nicht verstehen lassen ohne Kenntnis der großen Zahl von Autoren, die das literarische Leben einer jeden Zeit prägen. Bei Hans Wolf Jäger begegnete mir auch jener Magdeburger Heinrich Zschokke, der, 1798 in die Schweiz gegangen mit seinem Aufrichtigen und wohlerfahrenen Schweizerboten und seinem Goldmacherdorf zum Thema meiner Dissertation wurde. Bei Gerhardt Petrat lernte ich Dinge kennen, von denen außer ihm noch kaum einer gehört, geschweige denn geforscht hatte: Intelligenzblätter, Flugschriften oder Kalender als Hausbuch des gemeinen Mannes.
Nach der Promotion erhielt ich, auch das dürfte fast nur in Bremen möglich gewesen sein, im Rahmen des Forschungsschwerpunktes Spätaufklärung die Chance, ein eigenes Forschungsprojekt zu entwickeln, in das mir niemand jemals hineingeredet hat. Während der Arbeit an der Dissertation hatte ich bemerkt, dass das gewöhnliche Urteil über die deutsche Aufklärung, diese habe sich selbstgenügsam allein auf die Gebildeten beschränkt, mit der Realität zahlreicher Schriften kollidierte, die mir das Gegenteil zu beweisen schienen. Gemeinsam mit meinem Freund und Kollegen Reinhart Siegert machte ich mich an die Erforschung einer Bürgerinitiative des 18. Jahrhunderts, einer praktischen Reformbewegung, die mir mit ihren besseren Vertretern das Wertvollste scheinen will, was die deutsche Aufklärung hervorgebracht hat. In der Volksaufklärung lässt sich verfolgen, wie in einer Gesellschaft, die Bildung, Lebenschancen und politische Mitsprache nach der Standeszugehörigkeit bemaß, die Überzeugung wuchs, dass Aufklärung kein Gut sein dürfe, welches ein Stand als Monopol beanspruchen darf. Eine Nation von „denkenden Lesern“, wie Rudolf Schenda sie sich wünschte, ist trotz der populären Aufklärung Utopie geblieben, aber so mancher Volksaufklärer gehörte zu jenen, die gegen die Widerstände derjenigen, die für die über Jahrhundert dauernde deutsche Bildungskatastrophe Verantwortung tragen, von einer solchen Utopie träumten und an ihrer praktischen Verwirklichung mitwirkten, beteiligt an einem Programm, das zur Herausforderung der Aufklärung wurde, zur Herausforderung aber auch für uns, für Reinhart und mich, denn dass es einmal 25.000 Schriften sein würden, die sich zum Zwecke der Aufklärung direkt an den gemeinen Mann wandten oder in denen die volksaufklärerische Programmatik diskutiert wurde, die wir folglich nach ihren Inhalten und bibliographischen Besonderheiten zu charakterisieren hatten, das haben wir damals nicht geahnt.
Zum Schluss einige Worte zu dem Institut, das für mein wissenschaftliches Leben den größten Glücksfall darstellt, nämlich dass es in Bremen seit 1957 ein Forschungsinstitut gibt, das sich der Geschichte der deutschen Presse widmet, ein Institut, dessen Mitarbeiter sich weitgehend auf ihren Forschungsgegenstand konzentrieren konnten, so dass aufwendige, auf grundlegende neue Ergebnisse gerichtete Projekte überhaupt möglich waren. Das Glück begann damit, dass mein Vorgänger Martin Welke 1987 Bremen verließ, um sein Zeitungsmuseum aufzubauen, es setzte sich fort mit Emmy Moepps, mit der gemeinsam ich mich daran machte, sämtliche in Hamburg und den Nachbarorten erschienenen Periodika in die Hand zu nehmen und sie bibliographisch und nach ihren wichtigsten Inhalten zu beschreiben. Es war eine ganz wunderbare Zusammenarbeit, für die ich dankbar bin, nicht nur mit Frau Moepps, auch mit Michael Nagel nun ebenfalls schon seit Jahrzehnten, mit der tatkräftigen Astrid Blome, die wir in Bremen vermissen, mit Aissatou Bouba, dem klugen Kollegen Johannes Weber und mit Stephanie Seul, eine Zusammenarbeit, die nie durch irgendwelche hierarchischen Komplikationen behindert wurde. Stolz bin ich auf die 2001 gegründete Abteilung, in der Michael Nagel und Stephanie Seul die Geschichte der deutsch-jüdischen Presse erforschen, in der von Michael gegründeten Buchreihe sind inzwischen zwanzig Bände erschienen.
Zum Schluss muss ich – mir und Ihnen – die Frage stellen, ob es eines solchen Institutes bedarf, das sich mit der historischen Presse und Kommunikationsprozessen befasst, die für die Entwicklung unserer Gesellschaft grundlegend sind, eines Institutes, durch das unsere Universität ein, um dieses unschöne Wort aus Hochglanzbroschüren zu verwenden, ein Alleinstellungsmerkmal hat. Wir haben auf unsere Bitte, mit uns über die Zukunft der Deutschen Presseforschung zu sprechen, von der Universitätsleitung seit zwei Jahren ebenso wenig eine Antwort erhalten wie der zuständige Fakultätsrat, der sich ebenfalls mit dem Anliegen, das Institut zu erhalten, an Rektor und Kanzler gewandt hat. Es wäre schade, wenn ein Institut mit einer Infrastruktur zerstört würde, für die der Steuerzahler viel Geld ausgegeben hat. Schade auch, wenn der an diesem Institut stets vorhandene Freiraum wegfiele, der allein Grundlagenforschung ermöglicht.
„Der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt“, so hat Wilhelm von Humboldt gemeint, „ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung.“
Ich fürchte, es ist nicht nur das mit dem Alter ja häufig verbundene Lamentieren, wenn es mir scheinen will, dass es von solchen Bildungsvorstellungen und von dem, wovon ich einst als Lehrling und Student geträumt habe, nämlich von einer Hohen Schule, die solchen humanistischen Grundsätzen verpflichtet ist, nicht mehr viel gibt. Gerade zu dem Zeitpunkt, da man seit den 1970er Jahren begann, eine größere Zahl von Studenten aus der Arbeiterschaft an die Universitäten zu lassen, hat man damit begonnen, das zu vernichten, was an universaler Bildung traditionell einer kleinen Minderheit vorbehalten war; ein erneuter Ausschluss. Von den Veränderungen durch die Bologna-Prozesse will ich nicht reden, aber ich stelle mir vor, dass ein Immanuel Kant oder ein Wilhelm von Humboldt Zielvereinbarungen hätten unterschreiben müssen, wie dies den jungen Kolleginnen und Kollegen an unserer exzellenten Universität abverlangt wird, mit denen sie sich als Geisteswissenschaftler verpflichten, jährlich eine Drittmittelsumme von 150.000 Euro einzutreiben. Besonders gern gesehen sind Großprojekte und Forschergruppen. Ist ein Antrag geschrieben, muss der nächste schon konzeptioniert werden: der Tod jeder Forschung, die auf Nachhaltigkeit setzt, der Tod allen Forschens, durch das die Lehre an einer Universität ihre Befruchtung empfangen kann. Umso dankbarer bin ich für die mir über Jahrzehnte gegebene Möglichkeit, nicht nur Verwertungsprozesse organisieren zu müssen, in denen die Forschung auf der Strecke bleibt, sondern noch selbst forschen zu dürfen.
Und nun zu den schönen Seiten des Lebens: ich freue mich, dass Sie gleich mit mir mit einem guten Glas Wein anstoßen werden.